Hochkultur


Wie klingen die Dolomiten? Wir begeben uns auf die Tonspur des Cellisten Mario Brunello und erleben die Berge mit den Ohren. Und manchmal ist es dort oben so still, dass man Seifenblasen platzen hört.

Die Berge liegen still und schwarz. Es ist halb sechs Uhr früh, der Himmel schimmert im Zwischendunkel. In der Steinarena der Col Margherita, in 2513 Meter Höhe, haben sich gut 2000 Menschen versam­melt. Bunt heben sich ihre Outdoorjacken von den Felsen ab, die zu einer kleinen Holzbühne herabblicken. Dort sitzt ein Mann. Bewegungs­los fast. Mario Brunello schaut und lauscht. Wind ist zu hören, wie immer hier oben. Und das Geplapper des Publikums. Brunello, der Musi­ker der Berge, begrüßt die Menge. Dann beginnt er, auf seinem Cello zu spielen. Hinein in die erwartungsvolle Stille, hinauf in die Weite.

Vier Cellisten setzen ein sowie Trompeter Dave Douglas, der aus New York gekommen ist, um beim „schönsten Festival der Welt“ dabei zu sein.Vor 21 Jahren hat sich dieses den „Suoni delle Dolomiti“, den Klängen der Dolomiten, ver­schrieben. Brunello nahm von Anfang an daran teil. Jeden Sommer klettert er, sein 400 Jahre altes Cello auf dem Rücken, zu den entlegensten Orten, um seine Musik den Bergen darzubrin­gen. Und den Menschen, die in immer größeren Scharen anreisen. Wir folgen dem berühmten Cellisten auf seiner persönlichen Tonspur – als Audioguide führt er uns zu Orten der Dolo­miten, die für ihn einen besonderen Klang ha­ben. Er lässt sie uns mit anderen Ohren hören, mit geschärften Sinnen erfahren.

Unter den Vajolettürmen zieht es die Mas­sen nach oben. Als Inbegriff der Dolomitenpracht lockt das Rosengartenmassiv an Sommerwochenenden Heerscharen von Alpentouristen. Auf dem einstündigen Weg von der Gardeccia- zur Vajolethütte begegnen uns viele Familien. Die ersten Kletterer kehren zurück von ihren morgendlichen Ausflügen in die Felstürme, die im Hintergrund wie Obelisken aufragen. Vor der Vajolethütte hat Brunello sein erstes Dolomi­tenkonzert gegeben. Er spielte Bach. Und hatte, wie er sagt, eine Art Erleuchtung. „Danach kam eine Dame zu mir und erzählte, dass sie zwei Stun­den zu uns hinaufgewandert war. Sie war blind. Leider hatte sie das meiste verpasst, weil sie zu spät kam. Sie gestand mir, dass sie ihr ganzes Leben davon geträumt habe, hier oben Bach zu hören. Also spielte ich noch mal – nur für sie. Damals begriff ich, dass es etwas Besonderes ist, was wir mit ,I Suoni delle Dolomiti‘ tun.“

Die Klänge des Ortes sind an diesem Mittag nicht ganz so erhaben. Aus der Hütte dringt Pop­musik, hinter der Theke scheppert Wirtin Karin Dallapiazza an der Kaffeemaschine. Seit 1989 führt sie die Vajolethütte mit ihrem Mann Fabio Bernard. Im Sommer herrscht stets großer Tru­bel. Vor der Hütte sind alle Tische besetzt, die üppigen Polentagerichte und Karins „Bockerlknöderl“ aus Buchweizenmehl sind für viele als Bergmotiv dem Gipfelkreuz ebenbürtig. Aber es gibt auch ruhigere Momente. „Die Stille am frü­hen Morgen, wenn alle schlafen“, sagt Karin Dallapiazza, „diese Stille ist das Schönste.“ Und der Grund, warum sie es schon mehr als ein Vierteljahrhundert hier oben aushält.

Auf dem Weg zur Antermoiahütte dünnt sich die Zahl der Aufstrebenden aus, denn für Kurzausflüge liegt sie zu fern. Wir nehmen den Weg über den Grasleitenpass. Eine kurze Espressorast in der gleichnamigen Hütte, die wie ein Schwalbennest an den Felsen klebt, dann geht es steil bergan zum Antermoiapass. Wir stapfen durch eine Sinfonie aus Stein und hören nichts als unser schnaufendes Continuo. Auf 2770 Metern liegt der höchste Punkt, der alle Mühen mit einem Plakatpanorama entlohnt. Be­vor wir die darunterliegende Hütte ansteuern, stoppen wir für eine Andachtspause am Anter­moiasee. Edelsteingrün schimmert er inmitten des Felsrondells, in seiner Unberührtheit einla­dend und abweisend zugleich. Als Brunello hier – im Sommer –musizierte, tanzten dünne Schnee­flocken zu der Melodie. „Wir versuchten zu sehen, ob man den Klang und seine Vibration auf dem Wasser sieht. Und das war so. Es ist wie ein Spiegel des Klangs. Man sieht die Wellen der Musik auf dem Wasser. Ein fantastischer Ort“, hat er uns erzählt.

Auch Almo Giambisi war damals unter den Zuhörern. Der 78-jährige Hüttenwirt residiert seit 26 Jahren hier oben – und ist ein Quell für Geschichten. Giambisi hat einige Achttausender im Himalaja erklommen und als Bergführer viele Expeditionen geleitet. Abends sitzt er bei seinen Gästen und erzählt von den Gipfelmomenten seines Lebens. Man könnte stundenlang zuhö­ren. Doch die Hüttenruhe fordert ihren Tribut. Nach einem Glas Rotwein und einem Teller Pasta sinkt man steinmüde in ein Etagenbett. Absolute Stille jetzt. Diesmal dank Ohrstöpseln.

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Text: Barbara Esser
Fotos: Marlies Plank

Die ganze Reportage “Hochkultur” finden Sie im ADAC Reisemagazin Dolomiten ab Seite 49. Das Magazin können Sie auch hier bestellen.

 

 

 

 

 

 

 

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