Rockys neue Heimat


Lukas Schulz doubelt „Rocky“. Im gleichnamigen Musical spielt der Amerikaner Drew Sarich, 36, den Boxer.

Muss wirklich ein Singspiel aus dieser Geschichte werden, in der ein Mann seine letzte Chance sucht, über sich hinauswächst und fast totgeschlagen wird? Soll Rocky Balboa in einer Linie stehen mit trällernden Katzen? „Das haben wir uns auch gefragt“, sagt Kerstin Schnitzler und lächelt wie jemand, der die Antwort gefunden hat. Die 42-Jährige ist Musicalproduzentin. Sie sorgt dafür, dass die Boxsaga im anvisierten Zeit- und Kostenrahmen auf die Bühne kommt. Kreative, Techniker, Schneider, sie zählt mit den Fingern ab, insgesamt etwa 300 Leute muss sie koordinieren. Seit 2004 produziert sie für Stage Entertainment jedes Jahr zwei Musicals.

Im Hintergrund steht ein mannshoher Pappaufsteller. Er zeigt Sylvester Stallone als Rocky. Gerade hat er das Training aufgenommen, ist mit Wollmütze durch die Stadt gerannt und die Treppen hinauf zum Philadelphia Museum of Art. Oben reckt er die Faust in den Himmel. Das weltberühmte Motiv ist fast 40 Jahre alt. Mehr gibt es im Operettenhaus am Spielbudenplatz nahe der Reeperbahn ab November zu sehen. Dann feiert „Rocky“ als erstes internationales Musical Weltpremiere in Hamburg; ein Jahr soll es im Operettenhaus bleiben: Aber alle hoffen auf mehr.

Unser „Rocky“-Darsteller Lukas Schulz in Aktion.

Elf Millionen Euro Produktionskosten investiert Stage Entertainment in das Stück. Der Branchenführer hat 4000 Beschäftigte in zwölf Ländern und 29 Theater. Von seinen 600 Millionen Euro Umsatz macht er die Hälfte mit zehn Stücken in Deutschland. „Rocky“ soll von hier aus den internationalen Markt erobern, an den Broadway gehen, um die Welt touren: Die Vorproduktion, das erste Casting, die Testläufe – all das findet in New York statt. Die Skripte sind in Englisch geschrieben und werden erst ins Deutsche übersetzt. Musicals sind globalisierte Unterhaltung. Die Adaption des Disney-Hits „Der König der Löwen“ lockte in zehn Jahren acht Millionen Besucher in das Theater im Hamburger Hafen. Drei Bühnen bespielt Stage Entertainment in der Stadt, eine vierte wird gebaut. Mit den vielen kleineren Theatern machen sie die Hansestadt nach New York und London zur drittwichtigsten Musicalmetropole weltweit. Rund die Hälfte aller Gäste kommt wegen der Theater. 2010 ließen Musicalfans eine halbe Milliarde Euro an der Elbe. Rocky, sagt Schnitzler, sei in dieser Stadt genau richtig – und deutet nach draußen. St. Pauli liegt dreckig im Nieselregen und erinnert an Kensington, Philadelphia, aus den „Rocky“-Filmen. „Hamburg“, sagte Sylvester Stallone denn auch, als klar war, dass das Musical dort Premiere feiern würde, „ist eine ,Rocky‘-Stadt.“

Nur: Wie gut sieht ein singender Boxer aus? „Er hätte nicht singen müssen“, sagt Schnitzler. Manchmal funktioniere ein Musical ohne Sänger als Hauptfigur, aber in diesem Fall … Sie beendet den Satz und sieht den Papp-Rocky an. Der Text auf dem Aufsteller lautet: „Fight from the heart.“ „Letztlich“, sagt Schnitzler, „ist es eine Liebesgeschichte.“ Und wegen der Liebe werde Rocky dann doch singen, und zwar im Duett. Schnitzler sagt: „Deswegen ist die Geschichte so gut.“

Nachgestellte Filmszene aus dem alten „Rocky“-Film: Der Boxer joggt durch sein Wohnviertel.

Tatsächlich sind Boxfilme nur dann interessant, wenn noch etwas anderes thematisiert wird als nur der Sport: Robert De Niro scheitert als Jake LaMotta in „Wie ein wilder Stier“, weil er Bestätigung sucht. Und „Hurricane“, die Geschichte des Boxers Rubin Carter, ist eine gute Geschichte, weil Carter zu Unrecht wegen Mordes verurteilt wurde. Und zuletzt Rocky: Er verliert den Kampf, gewinnt aber Selbstachtung – und die Liebe zu Adrian, die in einer Zoohandlung arbeitet. Der erste Film von 1976 bildet die Grundlage für das Musical. Ralf Schädler, 40, nickt. Er ist für die Besetzung des Stücks verantwortlich und sagt: „Wir haben keinen Stallone-Klon gesucht. Wir brauchen Darsteller, die sich glaubhaft hier aufhalten könnten.“

Plakate aus 40 Jahren Boxhistorie zieren die Wand. Zwischen René Weller und Muhammad Ali wird kaum unterschieden. Links steht eine jahrmarkttaugliche Boxerfigur, die Umkleide ist durch einen Vorhang abgetrennt. Neonröhren leuchten über dem Ring, die Luft steht. „Bei ,Rocky‘ “, sagt Schädler, „haben sich alle möglichen Leute beworben.“ Hinter ihm drischt ein Boxer auf einen Sandsack ein. „Einfach, weil sie Rocky sein wollten.“ Es ist das erste Mal, dass nicht Stallone die Rolle spielt. Und weil alles neu sei, habe man sich auch überlegt, was sinnvoller sei: aus einem Boxer einen Schauspieler zu machen oder aus einem Schauspieler einen Boxer. „Wir machen Theater“, beantwortet Schädler die Frage . Es gehe nicht darum, sich zu prügeln, sondern um Gesang, Tanz, Bewegung, Ausdruck. Dann erst um Sport. „Das kriegt man meistens hin“, sagt er. Schädler kennt sich aus. Früher spielte er in „Starlight Express“, „Saturday Night Fever“ und „Hair“ mit. Seit fünf Jahren arbeitet er auf der anderen Seite des Vorhangs. Und sucht mehr als einen Hauptdarsteller. Alle Figuren müssen dreifach besetzt sein, damit Rocky achtmal in der Woche gegen Apollo Creed kämpfen kann. Schauspieler bei Stage Entertainment sind keine Stars, sondern austauschbar. Anders als bei den Boxern.

Kerstin Schnitzler (im Hintergrund) ist die Produzentin des Musicals.

Im Keller hängen Bilder der Klitschkos an der Wand. Sie sind, wie Stallone, Koproduzenten des Musicals und sollen den Darstellern in den Boxszenen helfen. „Normalerweise“, hatte Schnitzler gesagt, „kaufen Frauen die Karten und schleppen ihre Männer mit.“ Und die soll „Rocky“ ebenso begeistern. Bei der Vorstellung des Projekts erzählte Vitali Klitschko, dass Rocky für ihn ein Grund gewesen sei, mit dem Boxen anzufangen. Bis 2003 sei er selbst ein Underdog gewesen: Dann fiel der Gegner von Lennox Lewis aus, und der Ukrainer durfte gegen den Weltmeister in den Ring. Klitschko verlor, verkaufte sich aber gut. Am Ring damals: Sylvester Stallone. Vitali Klitschko war zu dieser Zeit, wie sein Bruder, bei einem Hamburger Boxstall unter Vertrag. Es war eine gute Zeit für den Sport in der Hansestadt. Zwar gibt es dort keine Historie wie in Berlin, keinen Bubi Scholz oder Max Schmeling, aber zeitweise trainierten mehrere Weltmeister in einem einzigen Boxstall in Wandsbek, neben den Klitschkos Dariusz Michalczewski, Felix Sturm und Regina Halmich. Mittlerweile fehlt es Hamburg an Boxern mit Zugkraft. Es wird Zeit, dass „Rocky“ kommt.

Aber wird auch das Publikum kommen? Die Masse ist launisch. Selbst die akribischste Vorbereitung garantiert nicht den Erfolg. Manchmal werden kleine Produktionen Riesenhits, wie der erste „Rocky“-Film, manchmal floppen potenzielle Blockbuster. Das Musical „Titanic“ etwa soff nach zehn Monaten in Hamburg ab.

Clemens Weissenburger, 34, steht im Zuschauerraum des Operettenhauses und blickt auf eine Tür. Zwar ist sie nur Teil des eisernen Bühnenvorhangs, aber den Bühnenbildnern hat sie so gut gefallen, dass sie in „Rocky“ integriert wird. „Ich bin der, der aus einer künstlerischen Idee eine technische Lösung macht“, sagt Weissenburger, technischer Produktionsleiter. Seit zwölf Jahren betreut er zwei Shows im Jahr. Bei „Rocky“, sagt er, werde alles Teil der Bühne sein, ein offenes Konzept, je mehr es einer Industrieanlage ähnele, desto besser. Zumindest hinter der Bühne tut ihm das Ambiente den Gefallen, abgewrackt auszusehen:

Das Foyer des Operettenhauses, wo „Rocky“ ab November 2012 aufgeführt wird

Metallspinde, Kabelstränge, Eisentürme, auf denen die Scheinwerfer stehen, unverputzte Wände. „Die Entwicklung des Bühnenbilds dauert ein Jahr“, sagt er. Obwohl alles integriert wird? „Weil“, sagt Weissenburger. Und weil der Ring dazukommt. „Die Frage ist doch: Wie bekommt man Boxfeeling ins Theater?“ Er streckt eine Hand nach vorn. „Indem man den Ring verschiebt und ihn zum zentralen Element des Stücks macht.“ So wird er im fertigen Bühnenbild in fast jeder Szene zu sehen sein. Vier Stahlseile bewegen ihn und sorgen dafür, dass er mal als Decke, mal als Mauer, mal als Ring fungiert. Mit sechs mal sechs Metern wird er Originalmaße haben. Beim finalen Kampf wird er sich in den Saal schieben. Die Zuschauer in den ersten sechs Reihen werden sich dann umsetzen müssen: Sie sind Teil der Bühne und sitzen direkt an den Seilen. Und damit alle gut sehen, wird darüber ein Videowürfel den Kampf abbilden. Das Bühnenbild, sagt Weissenburger, werde Stimmung erzeugen. Er grinst, er ist stolz auf seine Arbeit. Aber kann man schon was sehen? Über die Tür hinaus? Er überlegt eine Sekunde und greift dann in seinen Rucksack. Er holt einen Schwung Papier heraus. „Hier“, sagt er, „alles aufgezeichnet.“ Das neue Bühnenbild entsteht erst, wenn das alte abgebaut ist. Nur zwei Wochen Zeit bleiben im Herbst, 300 Personen sind dann 24 Stunden am Tag beschäftigt. „Na ja“, sagt Weissenburger, „natürlich gibt man immer sein Bestes.“ Aber diesmal sei es etwas Besonderes. „Weil der Film so gut ist.“

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