Hallig Süderoog: Zu zweit auf einer Insel


Ein junges Paar verlässt das Festland und fängt auf der Hallig Süderoog ein neues Leben an. Inmitten des Wattenmeers trotzen Nele Wree und Holger Spreer den Naturgewalten der Nordsee. Ein Glück für sie beide.

Etwa 30-mal im Jahr geht die Welt von Nele und Holger unter: Wenn die Sturmflut kommt, steht ihnen das salzige Wasser der Nordsee fast bis zum Haus. Dann müssen sie sich und ihre Tiere schleunigst in Sicherheit bringen. „Um die Enten und Gänse mache ich mir wenig Sorgen, die können ja schwimmen, auch im Stall“, sagt Nele. Not macht eben pragmatisch.

Aber die Schafe und die Hühner, die müssten sie dann mit in den kleinen Schutzraum unterm Dach ihres Hofes nehmen. Bislang hatten sie Glück, das Erdgeschoss war noch nie geflutet. Trotzdem verrammeln sie bei entsprechender Wetterprognose die Fenster und dich­ten die Türen mit Silikon ab. Und wenn es doch mal schlimm kommt? Einfach abhauen, sich mit dem Hubschrauber evakuieren lassen, das kommt für die beiden einzigen Halligbewohner nicht infrage: „Wenn die Lage dramatisch wird, müssen wir erst recht hier bleiben und auf unsere Tiere aufpassen“, sagt Holger.

Süderoog. Sechs Kilometer südwestlich der Insel Pellworm. 62 Hektar Salzwiese, eine Warft, auf der ein reetgedeckter Klin­kerhof steht. Rundherum nichts als eine schier unendliche Weite aus Himmel und Meer. Wer hier hin- oder wegwill, muss den Tidenkalender kennen. Je nach Ebbe oder Flut beansprucht der Weg eine Stun­de mit dem Boot oder eineinhalb Stunden zu Fuß durchs Watt.

Ihre Vorgänger blieben bis zur Rente

Nele und Holger. Als der Küstenschutz 2013 neue Pächter für Süderoog sucht, be­wirbt sich das Paar und setzt sich gegen 28 andere Interessenten durch. Als die beiden die Zusage bekommen, zögern sie nicht. „So eine Gelegenheit bietet sich nicht oft im Leben“, erklärt Nele. Nun besteht ihre Aufgabe darin, das Land zu bewirtschaften und seine kleine Küste zu erhalten. Zehn Halligen liegen in der Nordsee, 2009 hat die UNESCO sie auf die Liste der Welterbestätten gesetzt. Für die Bewohner des Festlands sind sie ein wichtiger Wellenbrecher, Süderoog steht als Brutstätte für Seevögel obendrein unter strengem Natur­schutz. Die Stelle müssen sich die 32-Jährige und der 35-Jährige teilen, es wurde nur eine ausgeschrieben. Nele arbeitet als Ran­gerin, Holger als Wasserbauer. Ihre Vorgän­ger blieben bis zur Rente.

Die Tage ohne Weltuntergang beginnen morgens um halb sieben. Frühstück. Erst sind die Tiere dran, dann die Menschen. Frische Brötchen vom Bäcker kommen sel­ten auf den Tisch. Dafür selbst gemachte Marmelade und Eier direkt aus dem Nest. Für den Kaffee setzt Nele den Teekessel auf den Gasherd und lässt anschließend das heiße Wasser durch die Filtertüte lau­fen. Eine richtige Stromversorgung wäre schön. Zukunftsträume.

Bis dahin behelfen sie sich mit den 24-Volt-Fotovoltaikplatten hinter dem Haus. Sie speisen den Kühl­schrank und einige Lampen. Für Geschirr­spüler, Waschmaschine oder Staubsauger reicht die Energie nicht. Dafür muss der Generator in der Scheune laufen. Sechs bis sieben Liter Diesel braucht er in der Stun­de. Damit sich das lohnt, sind Waschmaschine, Staubsauger und Schrotmühle für das Tierfutter meist gleichzeitig im Einsatz. „Zeitmanagement ist hier nicht immer einfach“, sagt Nele und greift nach den Kaffeetassen im Regal.

Überstunden werden in Glücksmomenten ausbezahlt

Abiad fordert maunzend Zutritt zur Küche mit der niedrigen Decke, den blau-weiß gefliesten Wänden und dem Fenster zum Meer, das gerade auf dem Rückzug ist. „Eine Diva, dabei war sie eine Straßenkatze“, erzählt Nele und krault das weiche Fell. Sie hat Abiad aus Jerusalem mitgebracht, wo Nele sieben Monate lang lebte und am Ölberg ein deutsches Café leitete. „Sie hat mich hartnäckig verfolgt, und als ich nach Deutschland zurückging, habe ich es nicht geschafft, sie auf der Straße zurückzulassen.“ Jerusalem. Rom. Bonn. Neles Lebensstationen. Studiert hat sie Kunstgeschichte, gearbeitet zuletzt in einem Architekturbüro.

Dann kam Holger. Kapitän auf einem Krabbenkutter. Blondes Haar, voller Bart, helle Augen, tro­ckener Humor. Er und Nele kennen sich schon ewig, verloren sich aber einige Jahre aus den Augen. Er lädt sie zu einem Wie­dersehen ein, sie werden ein Paar, besu­chen Süderoog und erfahren, dass die Pächter dort einen Nachfolger suchen. Nele streicht sich eine hellbraune Haar­strähne aus dem Gesicht und lächelt: „Ich mache eben immer so Sachen, die andere nicht machen.“

Das hier ist mehr als nur ein Job. „Über­stunden werden alle ausbezahlt“, sagt Hol­ger. Nicht in Euro, dafür aber in Glücks­momenten. Reich im materiellen Sinne wird man hier nicht. „Weil wir uns die Stelle teilen, brauchen wir zusätzliche Ein­künfte“, erklärt er. Sie organisieren Hoch­zeiten auf Süderoog, bieten Schiffstouren an und bewirten im Sommer mehrmals die Woche Wanderer, die übers Watt kom­men. Für heute Mittag hat Wattführer Knud Knudsen soeben per Telefon 37 Per­sonen angekündigt.

„Ist heute eigentlich Gänsezählen dran?“

Nach dem Anruf zählt jede Minute. Nur eineinhalb Stunden später wird Knudsen mit seinen Gästen kommen, dann müssen zwei Bleche mit Kuchen und ein großer Topf Kartoffelsuppe fertig sein. Wie gut, dass Linnea heute da ist. Bei sechs Kilo Kartoffeln zählt jede schälende Hand. Linnea hat ein freiwilliges ökologisches Jahr in der Schutzstation Wattenmeer auf Pellworm absolviert. Und weil sie mit den Kollegen von dort auch Wattführungen nach Süderoog durchführte, lernten sie einander kennen.

Wann immer sie kann, kommt die 20-Jährige nach Süderoog, auch jetzt, während sie in Greifswald stu­diert. „Sie hütet bei uns ein, wenn wir mal in Urlaub fahren, Familie oder Freunde besuchen möchten“, erzählt Holger. Sie selbst haben sich die Regel vorgegeben, dass die Hallig nie unbewohnt sein darf. „Angst, hier allein zu sein?“ Was denn das für eine Frage sei, entgegnet Linnea ver­wundert, allein sei es auf Süderoog am schönsten. „Ist heute eigentlich Gänsezählen dran?“, will sie von Nele beim Schä­len wissen, und ein Lächeln zeigt sich in ihrem sommersprossigen Gesicht, als diese nickt: „Darf ich dir nachher dabei helfen? Wie habe ich das vermisst!“

(…)

Text: Katja Fastrich
Fotos: Isadora Tast

Die ganze Reportage „Zweiwohnsitz“ finden Sie im ADAC Reisemagazin Nordsee ab Seite 116. Das Magazin können Sie auch hier bestellen.

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