Drunter und drüber


Freizeitparks_01_720x480Beschleunigungswerte wie in der Formel 1, G-Kräfte wie bei der NASA – in den großen deutschen Vergnügungsparks gibt es eigentlich kaum noch Limits. Auch die Sicherheitsexperten des TÜV, die deren Anlagen prüfen, müssen bei der Arbeit über ihre Grenzen gehen, wie ein Prüftermin im Europa-Park Rust zeigt.

Blue Fire hat gerade Pause. Das 620-Tonnen-Ungeheuer, das normalerweise zischt, rattert und quietscht, gibt keinen Laut von sich. Und wirkt in der aufgehenden Sonne seltsam surreal, vor den sanften Hügeln des Schwarzwalds fast sogar ein bisschen kitschig. Doch dieses Stillleben ist nur von kurzer Dauer, denn schon bald wird Blue Fire wieder bis zu 20.000 Adrenalinsüchtige pro Tag verschlucken, durch seine Eingeweide pressen, über seine stählernen Tentakel katapultieren und jeweils nach gut drei Minuten wieder ausspeien.

Christian Falk wagt sich erst nach langem Zögern an den Megacoaster. Nicht, weil er Angst vor ihm hätte. Er weiß, auf was er sich einlässt. Denn der Prüfer vom TÜV Süd kennt die Achterbahn nur allzu gut. Ihre Launen, ihre Schwächen und vor allem ihre allgemeine Verfassung. An diesem Morgen jedoch ist Falk eher vorsichtig: Die Schienen sind an manchen Stellen noch nass vom Morgentau. Da kann es schnell gefährlich werden, wenn sich der 40-Jährige an die Arbeit macht und in 35 Metern Höhe über die glitschige Konstruktion balanciert. Das Abgehen der gut einen Kilometer langen Strecke gehört zu jeder Routineprüfung einer Achterbahn. Für einen TÜV-Prüfer ist das Alltag – Zuschauern wird schon vom bloßen Gedanken daran schwindelig.

„Sicherheit geht auch für uns vor. Die kritischen Stellen checken wir mit einer Hebebühne“, sagt Falk und seilt sich an. „Am wichtigsten sind bei dieser Prüfung die Schraubenverbindungen und die Schweißnähte. Die Kräfte, die auf die Teile wirken, sind teilweise enorm.“ Wenn der Zug später mit mehr als 100 km / h über die Schienen rast, darf sich die Konstruktion mit 130 Stützen und 120 Schienensegmenten keine Schwachstellen erlauben.

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Raserei: Auf modernen Bahnen können die Besucher spektakuläre und bis dahin unbekannte Beschleunigungswerte erleben.

Falk weiß um seine Verantwortung. Jährlich besuchen 4,5 Millionen Gäste den Europa-Park in Rust, in dem Blue Fire seit 2009 seinen Dienst verrichtet. Die meisten kommen wegen der Achterbahnen und suchen den ultimativen Thrill. In Deutschlands größtem Freizeitpark bieten auf 90 Hektar 56 Fahrgeschäfte für jede Altersgruppe die angemessene Action. Allein der Blue Fire befördert jedes Jahr drei Millionen Abenteuerlustige. Für die Sicherheit gelten dabei strenge Bestimmungen, und statistisch gesehen gehören Achterbahnen zu den sichersten Verkehrsmitteln der Welt. Die Hightech-Monster sind dabei wunderbar unsinnig: Sie bringen Passagiere in atemberaubender Geschwindigkeit über Furcht einflößende Loopings von A nach A.

„Die TÜV-Prüfung findet in der Regel vor der Saison statt. In der übrigen Zeit ist der Betreiber in der Pflicht“, klärt Falk auf. 70 Personen sind im Europa-Park allein für Wartung und Sicherheit der Fahrgeschäfte zuständig. Allen voran Achim Stoß. Er ist Leiter der Betriebstechnik und im Idealfall für die Besucher unsichtbar. Denn seine Arbeit beginnt jeden Morgen, lange bevor die Massen das Areal fluten. „Wir müssen die Fahrzeuge warten, den Antrieb und die Bremsen überprüfen. Und wir machen jeden Morgen mit jedem Zug eine Probefahrt“, erklärt Achim Stoß. Es gibt sicher langweiligere Jobs.

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Rundfahrt: Mehrere Überkopfpassagen – unter anderem im Looping.

Und langweiligere Achterbahnen. Der Blue Fire wurde in Fan-Foren zur beliebtesten Katapult-Achterbahn der Welt gewählt – und das hat einen guten Grund. Der Kick besteht darin, dass es gleich mehrere gibt: Ein famoser Start, nervenzerrende Überkopf-Fahrten und mehrfach überlagerte Fliehkräfte lassen die Augen der begeisterten Fans groß werden. Dafür stellen sie sich brav in die Reihe und warten oft bis zu 45 Minuten auf das Highlight des Tages.

Schon bevor sich der Zug mit 110 km / h in die Tiefe stürzt, bekommen die jeweils 20 wagemutigen Fahrgäste eine Beschleunigung zu spüren wie sonst nur in einem Formel-1-Wagen. Die Züge werden nicht per Zahnradlift gemächlich nach oben gehievt, sondern explosionsartig an die höchste Stelle der Bahn geschossen – wie mit einem Katapult. Bei jedem Start signalisiert eine laute Fanfare, dass es kein Zurück mehr gibt. Der Höllenritt beginnt. In 2,5 Sekunden werden die zehn Tonnen schweren Züge nach oben gefeuert und die Mitfahrer gnadenlos in ihre Sitzschalen gepresst. So in etwa müssen sich NASA-Astronauten fühlen.

„Der Antrieb besteht aus Linearmotoren“, sagt TÜV-Prüfer Falk. „Das ist das gleiche Prinzip wie beim Transrapid, nur dass diese Achterbahn nicht schwebt.“ Von außen sehen die in einer Reihe montierten Elektromotoren relativ unspektakulär aus. Doch diese kleinen, weißen Kästchen bergen Urgewalten: Sie leisten 2200 PS, also in etwa so viel wie 15 Mittelklasseautos, und nehmen für zwei bis drei Sekunden, in der sie die meiste Kraft benötigen, bis zu 1,5 Megawatt Strom auf.

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TÜV-Prüfer Falk checkt Fahrwerk und Bremsen.

Defekte sind äußerst selten. „Die Bahn hat eine Verfügbarkeit von über 99 Prozent“, sagt Achim Stoß und ist sichtlich stolz auf den Blue Fire, der die Eigenkonstruktion einer Tochterfirma des Europa-Parks ist und mittlerweile in alle Welt exportiert wird. Russlands Präsident Putin hat jüngst ein Exemplar für einen Freizeitpark in Sotschi bestellt, und auch in der kalifornischen Sea World ist eine Bahn aus dem Schwarzwald zu finden. Doch nicht nur die Motoren müssen zuverlässig arbeiten, auch das Fahrwerk, das an den Schienen entlanggleitet, sollte einwandfrei funktionieren. TÜV-Mann Falk geht dafür in den Untergrund. Wie bei einer Pkw-Hauptuntersuchung verschwindet er in einer Grube in der Wartungshalle und schaut sich die Züge von unten an. Mit Taschenlampe und Schraubenzieher in der Hand geht er auf Fehlersuche. Sitzen alle Schrauben? Lassen sich die Räder problemlos drehen? Sind die Bremsen in Ordnung? Gibt es Korrosion am Fahrwerk? Gleichwohl weiß der TÜV-Experte Zweifler zu beruhigen: „Auch wenn der Strom ausfällt“, versichert er, „rauscht der Zug nicht ungebremst weiter.“ Riesige Permanent-Magnete fangen den Wagen am Ende einer Fahrt wie ein Anker ein – und diese Magnete können niemals ausfallen.

Besonders sensible Bereiche sind mehrfach gesichert. Zum Beispiel die 200 Bügel, die die Passagiere im Sitz halten. Sie werden von doppelten Sicherungsbolzen arretiert und sitzen so fest, dass Mitfahrer jeder Statur ab 1,30 Meter Körpergröße wie durch Schraubzwingen in die Sitzschalen gepresst werden. Damit auch wirklich jeder den Spaß genießen kann, gibt es in der letzten Reihe sogar spezielle Plätze für korpulentere Personen. Sie sind etwas stärker ausgeformt und haben breitere Wangen. „Im Blue Fire wirken Beschleunigungskräfte von bis zu 3,8 g auf den Körper“, erklärt Christian Falk, also fast das Vierfache der Erdbeschleunigung. Aber auch empfindliche Gemüter haben damit meist kein Problem. „Ältere Achterbahnen, bei denen nur bis zu 2 g wirken, können wesentlich unangenehmer sein als der Blue Fire.“

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Um das Süße kümmern sich andere.

Als besonders belastend werden nämlich ruckartige Bewegungen betrachtet, die auf Wirbelsäule und Nackenmuskulatur wirken. Die gibt es im Blue Fire nicht. Die Achterbahn wurde mithilfe von Lasertechnik so präzise gefertigt, dass die Bauteile auf den Millimeter genau passen. Experten sprechen hier von einer „Null-Ebenen-Fertigung“. Das heißt: Die Übergänge zwischen den Segmenten verlaufen derart exakt, dass der Zug so sanft über die Schienen gleitet, als wäre alles aus einem Stück gebaut. „Der Blue Fire läuft extrem ruhig. Jede Unebenheit würden wir bei den Probefahrten bemerken“, sagt Falk, der bereits in einem der Züge sitzt, um „mit dem Ohr auf der Schiene“ über die Strecke zu rasen. „In einer Holzachterbahn wäre das Fahrgefühl nicht so geschmeidig, aber da soll es auch rattern und rumpeln.“ Der hölzerne Wodan, der seit Ende März 2012 im Europa-Park steht und von 21.000 Balken und 1,6 Millionen Nägeln zusammengehalten wird, ist bei der nächsten Prüfung an der Reihe.

Alle drei Jahre muss TÜV-Mann Falk selbst zum TÜV. Bei dem Gesundheitscheck wird unter anderem überprüft, ob er noch schwindelfrei ist – schließlich kann er nur dann seiner Arbeit in den Höhen „Fliegender Bauten“ nachgehen. Aber das war für ihn noch nie ein Problem, auch privat hält sich Falk mit Klettern fit. Nur in ein Kettenkarussell steigt er ungern: „Da wird’s mir anders!“, sagt er. Das Rasante bekommt ihm besser.

TEXT: Jochen Wieler, FOTOS: Gerd George

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